Foto: Nicolas Suzor (CC BY-SA)

Der Eisberg und ich

Vor 100 Tagen erschien mein Debütroman Die unverhoffte Genesung der Schildkröte. Zeit für eine erste Bilanz.

Den ersten Roman, der – zumindest im Ansatz – professionellen Ansprüchen genügte, schrieb ich 2009. Natürlich wollte kein Verlag mein „modernes Realmärchen“ veröffentlichen, also landete Der vorsätzlich Handelnde auf meiner damaligen Website zum kostenlosen Download.

Er bekam sogar ein paar Rezensionen in der Blogosphäre, wohlwollende durchaus. Natürlich weiß ich heute, wie viele Schwächen er hatte.

Es hat zehn Jahre gedauert, bis tatsächlich ein Roman von mir in den Buchhandlungen stand. Dass Die unverhoffte Genesung der Schildkröte das seit dem 15. August tut, wahrhaftig in Buchhandlungen stehen, heute also seit genau 100 Tagen, ist für mich noch immer schwer greifbar.

Vom Strampeln im Wasser

Natürlich hätte ich schon viel früher den Weg der Selfpublisher gehen können, wie es mir so mancher Weggefährte vorschlug oder gar energisch empfahl. Ich habe das immer beiseite gewischt, indem ich das Bild eines Eisbergs bemühte.

89 Prozent der Eisberge finden sich unter der Wasseroberfläche. Die sichtbaren Selfpublisher, allen voran die Auflagen-Millionäre mit gewaltiger Fangemeinde und massentauglichen Geschichten an der Spitze des Eisbergs, verdrängen all diejenigen, die unter ihnen strampeln.

Dachte ich an Self-Publishing, dachte ich an Bert Brechts Dreigroschenoper, an die Worte über die einen im Dunkeln und die anderen im Licht.

Ein Rettungsschiff namens Carpathia

Ich arbeitete also weiter auf eine traditionelle Veröffentlichung hin, schluckte Rückschläge, glaubte unnachgiebig an mich und meine Geschichten. Bis – um ganz nah beim Eisberg zu bleiben – Robert S. Plaul und seine ganz persönliche MS Carpathia vorbeigeschippert kamen.

Was ich – Naivität des Debütanten – nicht einkalkuliert hatte, ist, dass es nicht nur im Meer der Self-Publisher Eisberge gibt. Dass selbstverständlich auch Verlagsautorinnen und -autoren entweder im Dunkeln oder im Licht stehen.

Und egal, welchen Eisberg man erklimmen möchte: Die eigene Position ist abhängig von Glück, Kontakten, Algorithmen und Marketingbudgets.  

Schweigen im Walde

Das Leben als veröffentlichter Autor fing gut an, mit bestärkenden Rezensionen erster Leser. Ich versuchte, den Rückenwind zu nutzen, kontaktierte mögliche Multiplikatoren, teilweise persönlich bekannte – in aller nötigen Demut.

Ich kontaktierte auch mögliche Partner für Lesungen. Und bekam in vielen Fällen nicht einmal eine Antwort.

Dafür schrieben mir Freunde und Bekannte, die den Roman in Buchhandlungen bestellen wollten und dort zur Antwort bekamen, er sei nicht lieferbar, man möge in vier Wochen wiederkommen. Was natürlich Quatsch war und die werten Mitarbeiter entweder unmotiviert oder unfähig.

Die Freunde und Bekannte haben dann eben bei Amazon bestellt.

Unnachgiebig geht es weiter

Das Leben ist ein Lernprozess, jenes als veröffentlichter Autor genauso wie jenes als Mensch an sich. Beim nächsten Roman werde ich vieles von vornherein anders machen.

Denn der wird kommen – garantiert, früher oder später. Die Einsicht, dass man als einer unter unglaublich vielen unglaublich großartigen Verlagsautorinnen und -autoren nicht automatisch davon ausgehen kann, dass Tausende Literaturbegeisterte auf einen gewartet haben, ändert daran nichts.

Und so schön es auch in vielerlei Hinsicht wäre, Tausende Leserinnen und Leser zu haben: Jeder Einzelne derer, die in diesen ersten 100 Tagen schon auf mich zugekommen sind und berichteten, sie hätten meinen Roman gelesen und er bedeute ihnen etwas, war für sich allein genommen die ganze Arbeit und das jahrelange Warten wert.

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