Der Schlüssel zur Fluchttüre
Die ’Pataphysik und ich: Welten formen leicht gemacht
Ende Juni lernte ich einen Mann kennen, der seit mehr als einem Jahrhundert tot ist. Sein Name: Alfred Jarry (französisch auszusprechen). Sein Verdienst: den Grundstein für die’Pataphysik gelegt zu haben.
Wobei Jarry dem vehement widersprechen würde, wäre er nicht 1907 an einer tuberkulösen Meningitis und den Folgen seines kompromisslosen 34-jährigen Lebens verendet und heute noch quicklebendig. Denn die ’Pataphysik (der Apostroph am Anfang ist kein Zeichenfehler, der gehört da hin) ist viel älter als er, viel älter als alles.
Alfred Jarry (oben auf seinem heißgeliebten Fahrrad zu sehen) definiert die ’Pataphysik als die Wissenschaft der imaginären Lösungen. Sie befasst sich mit den Gesetzen außergewöhnlicher Ausnahmen – anders als die gewöhnliche Wissenschaft, die sich in Jarrys Augen nur mit gewöhnlichen Ausnahmen befasst und dabei in herablassender Art behauptet, allgemeingültige Aussagen zu treffen.
Der Schriftsteller Raymond Queneau, einer von Jarrys späteren Jüngern, illustriert das am Beispiel der Schwerkraft und wirft der Physik einen „Mangel an Redlichkeit“ vor, weil sie unterschlage, dass es ein „unsichtbares, imaginäres und trügerisches Wesen“ namens Bausch gibt, das Objekten ohne materielle Stütze (Blätter, Äpfel, Walnüsse etc.) auflauert, sich an ihnen festklammert und sie zur Erde transportiert. Ganz ohne freien Fall.
Kornblumen
Es ist leicht, die ’Pataphysik als Nonsens hinzustellen. Doch das verkennt den Hintersinn des Nonsens. Und es negiert die Kraft und die Macht der Imagination.
Die schule für dichtung wien (die im Web eine Literaturliste mit Büchern über die ’Pataphysik und über ihren „Grundsteinleger“ bereithält) hat mir 2023 (nicht nur) den Jarry’schen Horizont eröffnet. Auf ihren Aufruf hin schrieb ich einen Text mit dem Titel kornblumen sind auch nur kein unkraut, der nun in der Zeitschrift sfd& pataphysik erschienen ist.
Und das war nur der Anfang. Mitte Juli trafen der Stuttgart-Gast Christian von Aster und ich (plus S. und H.) im Buschpiloten aufeinander und ich weihte ihn in die Geheimnisse der ’Pataphysik ein. Ich tat das, weil ich von seinem eigenen Engagement für die Parakryptozoologie wusste, die sich mit Tieren befasst, „die derart ausgestorben sind, dass sie womöglich nie existiert haben“.
Pilze
Eine spontan eingeschobene Handydisplay-Lesung auf dem hügeligen und regennassen Weg ins Flora & Fauna später lud mich Herr von Aster zu „Monster, Mythen und Mysterien“ Ende Oktober ins Naturkundemuseum Leipzig ein. Ich bekam den Auftrag, einen zum Themenmonat passenden Beitrag zur pataphysischen Pilzforschung zu leisten.
Ich überwindete daraufhin meine ausgeprägte Pilz-Phobie, schlug mich mit der enthusiastischen S. in die Büsche und verfasste einen Text für den Abend. Beim Auftritt offenbarte ich meinem (schon wieder regennassen, wenngleich diesmal wenigstens im Trockenen sitzenden) Publikum die Fein- und die Grobheiten der ’Pataphysik. Was aufs Selbe hinausläuft.
Widersprüche, Wortschöpfungen (wie Haarsträubereien) und (Irr-)Witz zählen zu den Stilmitteln der ’Pataphysik, die das Abstruse plausibilisiert. Wer pataphysische Texte liest, muss mit arglistiger Verwirrung rechnen. Wer pataphysische Texte schreibt, sollte sich aller Gewohnheiten entledigen. Und dann eintauchen in das einzig wahre Land der unbegrenzten Möglichkeiten: die Imagination.
Freiheit
In diesem Land gibt es für alles eine Lösung. Die Wissenschaft der imaginären Lösungen stellt das ultimative Werkzeug bereit, um Welt(-en) nach Herzenslust zu formen. Und wer etwas dagegen hat, wird einfach umgeschrieben. Oder weg-.
Natürlich vermag es selbst die ’Pataphysik nicht zu verhindern, dass der Alltag mit seinen kalten Fingern nach mir krallt und mich zurückzerrt in die Wirklichkeit. Dieser Alltag ist keineswegs immer grau, doch er ist eben: Alltag, häufig eng und fordernd, Zeit und Fantasie raubend.
Was die ’Pataphysik vermag, ist den Schlüssel zu einer Fluchttüre zu liefern. Durch die kann ich gehen – und wenn sich die Tür auch nicht verriegeln lässt, so kann ich mich auf der anderen Seite doch den gewöhnlichen Ablenkungen widersetzen und mich dem Ungewöhnlichen hingeben.