Schreiben und Sein
Dieser Text handelt von einem Speed Dating und von Marina Abramovic (wenngleich nicht von einem Speed Dating mit Marina Abramovic). Und er handelt vom Wert des Unveröffentlichten.
Ein wenig orientierungslos standen wir erst in der Gegend herum, suchten und fanden sie dann doch: die Kulturinsel Stuttgart auf dem Areal des ehemaligen Zollamts. Mitten im Neckarpark, wo auf 22 Hektar Wohnungen für 2000 Menschen entstehen, existiert dieses zauberhafte Biotop voller Grün und voller Menschen, die „die Welt ein bisschen bunter zu machen“ versuchen.
Die Kulturinsel war am vergangenen Freitag der Schauplatz eines Abends mit einem etwas anderen Lesungsformat. Beim vom BVjA organisierten literarischen Speed-Dating saßen fünf Autorinnen und Autoren mit einem bis sechs Zuhörenden an verteilten Tischen. Einer der fünf war ich.
Fünf Runden lang à fünfzehn Minuten saßen und lasen wir, beantworteten Fragen, setzten uns dem unmittelbar spürbaren Urteil aus. So spürbar ist es bei einer Bühnensituation selten.
Das Spiel mit dem Nicht-Bewährten
Ich präsentierte hauptsächlich unveröffentlichte Texte. Geschichten und Experimente, die noch nicht ausgereift sind, nicht geglättet – mit Stellen zum Hängenbleiben und Reiben, Stellen, die vielleicht unrund, kryptisch blieben und deren Verbleib nach der Überarbeitung unklar ist. Dem Gefühl, mich mit diesen Texten angreifbar zu machen, stand die erfahrene Wertschätzung des Publikums gegenüber.
Die Schriftstellerin Kathrin Röggla, bei der ich jüngst ein bereicherndes Online-Seminar zu den Katastrophen unserer Gegenwart belegte, erzählte in der Runde, sie teste gern Unveröffentlichtes bei Lesungen, eben um die Reaktionen darauf einfließen zu lassen. Ich fand das nachvollziehbar. Überzeugend.
Es gibt jedoch noch einen zweiten Grund, warum ich entschied, überwiegend Noch-nicht-Bewährtes zu lesen: Das Unveröffentlichte soll für mich eine größere Bedeutung gegenüber dem Veröffentlichten bekommen.
Ohne Groll
In meinem bislang letzten Eintrag auf dieser Seite schrieb ich über den Marktreifetest für den Roman, an dem ich die zweieinhalb Jahre gearbeitet hatte. Ein paar Menschen haben ihn seitdem zu Gesicht bekommen – nicht viele, ich habe ihn nicht mit der Gießkanne verteilt. Die professionelle Resonanz ließ lange auf sich warten. Oder blieb (bis dato) ganz aus.
Ich empfinde keinen Groll deswegen. Ich kann nichts erzwingen, ich muss nichts erzwingen und ich will nichts erzwingen.
Hinzu kommt: An meinem Gefühl zum Überfluss, über das ich vergangenen Oktober schrieb, hat sich nichts geändert. Wenn ich mich bei #bookstagram (91 Millionen Beiträge, #bookstagramgermany kommt auf 1,8 Millionen) umgucke, fühle ich mich erschlagen.
Von Marina Abramovic lernen
Vor kurzem sahen S. und ich die Dokumentation The Artist is present über Marina Abramovic und ihre Ausstellung im New Yorker MoMA 2010 – ein unglaublich intensiver Film, auch wenn er auf den einen oder anderen unnötigen Effekt hätte verzichten können.
In ihrem Artist’s Life Manifesto schreibt Abramovic unter anderem:
– An artist should explore life and work only when an idea comes to him in a dream or during the day as a vision that arises as a surprise
– An artist should not repeat himself
– An artist should not overproduce
Nicht überproduzieren, sich nicht wiederholen, die Ideen (oder Impulse, wie ich sie nenne) zu sich kommen lassen – das sind Leitsätze, mit denen ich viel anfangen kann.
Das Lernen mit den neuen Zielen
Unter dem Eindruck meines sogenannten Marktreifetests für den Roman und nach vielen Diskussionen mit S. habe ich Anfang des Jahres beschlossen, dass zu veröffentlichen nicht mehr mein primäres Ziel ist. Das primäre Ziel ist – kurzgefasst – zu schreiben.
Die Veröffentlichung nicht als Endpunkt zu sehen, hilft mir ungemein. Es hilft, mich weniger von Kalkülen bestimmen zu lassen. Es hilft, mehr aus Bauch und Seele heraus zu schreiben. Es hilft, vermeintliche Grenzen zu ignorieren, sich von Fesseln zu lösen.
Das Ganze ist ein Lernprozess. Ich genieße dieses Lernen, dieses Bei-mir-Sein im Schreiben. Was daraus wird ist zweitrangig. Zu sein beim Schreiben und zu schreiben beim Sein, das ist wichtig. Was für ein Privileg!