Die Form der Geschichte

Wer nicht bereit ist, sein Handeln hin und wieder zu überdenken, wird im Treibsand des Stillstands versinken.

In den Tagen der Isolation ist S., stärker noch als sie das ohnehin schon war, zu meiner wichtigsten literarischen Bezugsperson geworden. Nicht nur, dass wir uns einander Romane aus dem Bücherregal unserer Herzen auf den Nachttisch legen. Sie ist auch die erste, die das vors Auge geführt bekommt, was ich loszulassen bereit bin.

Ihr Blick ist kritisch und ihr Korrekturstift spitz. Als sie sich meine jüngste Erzählung vornahm, saß ich im Gartenstuhl neben ihr und jede Zeile, die ich sie durchstreichen sah – oder hörte, weil ich mich irgendwann nicht mehr hinzuschauen getraute – versetzte mir einen Stich.

Ich war am Ende von Stichen übersät.

Der Rat des Arrivierten

Eine Vertrauensperson wie S. zur Seite zu haben – ohne Scheu, mit literarischem Hunger und Verstand – ist für Schriftstellerinnen und Schriftsteller unverzichtbar. Jeden Hinweis dieser Person umsetzen muss man nicht, jeden Hinweis abwägen schon. Aber darum soll es in diesem Text gar nicht vorrangig gehen, sondern um den Mut zur Veränderung.

Als ich 2012 das erste Kapitel der Erstfassung eines (noch unveröffentlichten) Romans an einen älteren Autorenkollegen schickte, der – wie ich – jahrelang für Zeitungen gearbeitet hatte, riet er mir sinngemäß: „Vergessen Sie alles, was Sie bisher über das Schreiben gelernt haben“. Während es die Aufgabe des Journalisten sei, durch Fakten Klarheit zu schaffen, so meinte er, sei es die Kunst des Literaten, eine Geschichte zu erzählen, indem er Informationen weglasse.

Lebendigkeit durch Lücken und Leerstellen schaffen, Fantasie wecken durch geschicktes Nicht-Niederschreiben – das gefiel mir, das nahm ich in meinen Werkzeugkasten auf.

Wer füllt die Lücke?

Möglicherweise habe ich es mit dem Lücken und Leerstellen in meinen Geschichten ein wenig übertrieben. Möglicherweise überfordere ich Leserinnen und Leser, wenn ich ihnen die Aufgabe aufbürde, implizite Rätsel zu entschlüsseln und verquere Gedanken zu dekodieren.

Das, zumindest, war die Schlussfolgerung, die ich aus den Debatten mit S. zog. Die störte sich in meinen Texten an Geheimnissen, die ich in den Raum warf, ohne sie aufzuklären. Sie störte sich weniger an der Tatsache, dass ich es tat, sondern mehr daran, dass ich die Lücke ihr gegenüber nicht füllen konnte oder wollte – meistens, weil ich der Ansicht war, die Auflösung des Geheimnisses sei irrelevant, weil das Thema der Geschichte ein ganz anderes sei und das Geheimnis nur Katalysator.

Ich brauchte lange, bis ich verstand, was sie mir zu sagen versuchte, als sie darauf bestand, zumindest ich müsse das volle Geheimnis kennen, ob ich es nun verraten möchte oder nicht. Und ich sträubte mich. Sträubte mich gegen ihren Vorschlag, mir grundsätzlich zu überlegen, ob ich mir nicht neue Formen erschließen könne  - und beobachten, wohin mich das führe.

Die Kerben von Neil Gaiman

Woran das lag? Schwer zu sagen. Vielleicht an der Überzeugung, meine Geschichten könnten nur in dieser einen aus mal bewussten, mal unbewussten Prozessen entstandenen Form erzählt werden. Vielleicht daran, dass mein Kopf und mein Herz längst weiterdrängten. Dass ich kein tieferes Interesse hegte, dieselbe Erzählung auf mehrere Arten zu erzählen.

Irgendwann klickte es. Auf einem der zahlreichen Waldspaziergänge, die ich in den vergangenen Wochen unternahm, verfestigte sich die Überzeugung, dass, wer nicht bereit ist, sein Handeln hin und wieder zu überdenken und anzupassen, im Treibsand des Stillstands versinken wird.

Neil Gaiman, dessen hypnotisierend-spannende MasterClass ich belegt habe, hat die Kurzgeschichte als Experimentierfeld bezeichnet. Man könne sich in ihr austoben, dies und das versuchen. Er schlug in die exakt selbe Kerbe wie S.

Ich habe begonnen zu experimentieren. Expliziter zu schreiben, dichter zu schreiben, anders zu schreiben. Und genieße es, die Zeit dafür zu haben, mir die Zeit dafür zu nehmen. Für immer und ewig verbannen werde ich meine Lücken und Leerstellen nicht. Ich habe sie zu sehr liebgewonnen.

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