Die Worte der anderen

Wer das Lesen nicht liebt, hat auch beim Schreiben nichts verloren.

Die Nachricht erreichte mich, frisch geduscht und mit der Badmintontasche zwischen den Beinen auf dem Beifahrersitz des Mitspielers M., am späten Montagabend: Saša Stanišić gewinnt den Deutschen Buchpreis 2019. Und hätten es die ausgeschütteten Hormone durch den Sport nicht schon geschafft, so hätte mich diese Nachricht glücklich gemacht. Herkunft ist auch mein Buch des Jahres 2019.

Wer gut schreiben will, sollte zunächst mal lesen – am besten täglich, am besten viel. Dieser Hinweis findet sich in fast allen Ratgebern für angehende Autorinnen und Autoren. Wer einen eigenen Stil entwickeln möchte, solle für Erste den Stil anderer imitieren oder wenigstens analysieren. Versuchen herauszufinden, warum eine Geschichte funktioniert – oder auch nicht.

Es gibt unter Etablierten unterschiedliche Auffassungen darüber, wie sinnvoll das ist. Ob man Schreiben nicht viel eher dann lernt, wenn man sich zuvorderst aufs eigene Schreiben konzentriert. Unser aller Zeit ist schließlich knapp.

Ozeane an Wörtern und Worten

Ich lese viel. Ärgere mich, wenn meine Zeit zu knapp ist. Ich lese weniger deswegen viel, weil ich die Texte anderer analysieren oder mir gar etwas abgucken, etwas klauen möchte. Sondern weil ich es liebe. Weil ich mich hineinzerren lassen möchte in Ozeane an Wörtern und Worten. Weil ich lachen, weinen, staunen, fiebern, bangen, träumen möchte.

Die wenigsten Bücher, die ich lese – gut zwei Dutzend pro Jahr sind es, lieber mehr – zerren erfolgreich an mir, lassen mich lachen, weinen, staunen, fiebern, bangen, träumen. Saša Stanišić hat es mit Herkunft geschafft.

Den Vorgänger Vor dem Fest las ich vor fünf Jahren mit dem Lesekreis, den wir just eine Woche, bevor der Roman den Preis der Leipziger Buchmesse gewann, aus der Taufe hoben. Ich trat in ihn ein, weil die Liebe zum Lesen wächst, sobald man sie teilt. Und weil es ungemein erhellend sein kann, über Bücher zu streiten oder festzustellen, dass man in Ablehnung oder Zustimmung einig ist.

Loben und verreißen

Der Kreis der Gleichgesinnten existiert noch. Besser gesagt: wieder; wir hatten uns zwischenzeitlich verloren, glücklicherweise aber erneut zusammengefunden. Etwas fehlte in der Zeit dazwischen. Wir haben uns Lieblinge des Feuilletons vorgeknüpft, haben verborgene Schätze geborgen und Klassiker hervorgekramt. Wir haben gelobt und verrissen, letzteres natürlich nur metaphorisch gesprochen.

Anke Stelling stand 2019 beispielsweise schon zwischen uns, Kenah Cusanit auch. Oder A.L. Kennedy und Paolo Cognetti. In zwei Wochen nehmen wir uns Dror Mishani zur Brust. Dann werden wir uns wieder in Rage reden, werden schwärmen und zetern, nach einem tieferen Sinn forschen. Nach dem, was wir mitnehmen können und wollen und sollen.

Ich habe in diesem Jahr zu wenig geschrieben – die Umstände machten es schwierig. Gelesen habe ich viel, bin dem Rat also gefolgt. Vieles von anderen zu lesen, um im besten Fall den eigenen Stil zu schärfen, ist aber keine Frage der Pflicht, sondern eine des Prinzips. Denn wer das Lesen nicht liebt, hat auch beim Schreiben nichts verloren.

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